Die Möglichkeit der Insel

Fragt man in Berlin jemanden nach der Torstrasse, würden die wenigsten ahnungslos auf ihrem Smartphone nachschauen. Die zwei Kilometer lange Strasse kennt jeder. Schließlich befinden sich auf ihr zahlreiche kulturelle und soziale Sammelpunkte. Orte des Zusammenkommens - sei es zum Essen, auf ein Feierabendbier oder zum Flanieren. Am Wochenende schieben sich Touristenmassen über die Torstrasse, um sich in großen Schwärmen von einer Bar zur nächsten zu bewegen - die Strasse scheint einfach nie zu ruhen. Und doch beherbergt die Torstrasse Hunderte, ja wenn nicht sogar Tausende Einwohner der Stadt Berlin. Sie schauen vielleicht aus dem Fenster, während man am Rosenthaler Platz in einem der vielen gleichnamigen U-Bahn Schächten verschwindet. Meistens bleiben sie ungesehen.

Auf der Torstrasse hat sich in den vergangen Jahrzehnten viel getan. Nur wenige Bauten bezeugen eine Zeit, in der der Verfall einer geteilten oder vom Krieg zerstörten Stadt noch sichtbar war.  Bestes Beispiel für die wirtschaftliche und architektonische Veränderung ist das ehemalige, jüdische Kaufhaus Jonaß & Co. Heute besser bekannt als Soho House. Hier residieren besser betuchte Geschäftsleute aus dem Ausland, sofern sie über eine der begehrten Mitgliedschaften verfügen. Das Prinzip der Exklusion zieht sich generell durch Berlin und so verschont es auch die Torstrasse nicht. Kaum bezahlbar scheint der Wohnraum hinter den voll sanierten Architektenkomplexen, die die Strasse zunehmend säumen. Gentrifzierung ist das Stichwort. Erst kürzlich räumte die Polizei einen besetzten, denkmalgeschützten Wohnkomplex in der Torstrasse und verriegelte ihn endgültig. Hier hatten Obdachlose, Punks und Gastarbeiter, Unterschlupf in den insgesamt 88 Wohnungen gesucht. Lediglich 8 Wohnungen sind noch offiziell bewohnt. 

In einer dieser Wohnungen lebt Herr Wolle. Als ganz besonderer Bewohner, ist er das Herzstück dieser Arbeit. Seit seiner Kindheit ist die Torstrasse sein Zuhause. Mit seinen 75 Jahren, hat Herr Wolle die vielen Wendepunkte der Torstrasse erlebt. Er ist Zeitzeuge der Nachkriegszeit, des geteilten Berlins, der Wende, des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Moderne. Früher lebte er hier mit seinen Eltern und seinen beiden Brüdern. Als sie gingen, kamen neue Bewohner: Dinosaurier, Teddybären und Gartenzwerge. Erst ein paar von ihnen und schließlich Hunderte. In allen denkbaren Formen und Farben. Herr Wolle passt gut auf seine Bewohner auf. Er spricht mit ihnen, umsorgt sie und achtet darauf, dass jeder von ihnen seinen eigenen Platz hat. Sie sind seine Familie und so werden sie auch behandelt: mit viel Liebe und Aufmerksamkeit.

Betritt man Herrn Wolles Wohnung beginnt eine Reise. So vieles gibt es zu entdecken. Und wann immer man glaubt, alles gesehen zu haben, überrascht ein neues faszinierendes Detail, eine neuer Bewohner oder ja, vielleicht sogar eine neue Sicht auf die Dinge. Schaut man, gemeinsam mit Herrn Wolle und seinen Mitbewohnern, nachts aus dem Fenster, fällt der Blick auf eine der vielen Bars der Torstrasse. Hier haben sich ganze Trauben an angetrunkenen, aufgeregten Partygästen  versammelt. Sie sind auf dem Sprung in die nächste Bar, um die Ecke oder zu einer anderen Party. Nur selten blickt einer zurück zu Herrn Wolle und so bleibt er ein unsichtbarer Beobachter des nächtlichen Treibens vor seinem Fenster.

Herrn Wolles Wohnung ist die Möglichkeit einer Insel in einer hektischen, modernen Welt. Ein Rückzugsort, an dem andere Gesetze herrschen. Ein lebendiger, dynamischer Lebensort, der trotz allem unverändert bleibt und damit Stabilität, in einer sich ständig verändernden Umgebung bietet. Vielleicht das letzte Stück unsanierte Insel auf einer zwei Kilometer langen Strasse im Zentrum einer Großstadt. 

Es ist eine Frage der Zeit, dass die Insel nicht bleiben wird, wie sie ist. Zu attraktiv ist die Lage, in der sie sich befindet. Investoren wissen das schon längst und werden, wie oft zuvor, ihr wirtschaftliches Interesse durchzusetzen wissen. Dieses Interesse berücksichtig vermutlich keinen Platz für die hunderte Stofftiere. Und auch nicht für Herrn Wolle. So soll diese Arbeit ein Denkmal setzen. Ein Denkmal für das alte Berlin, das zu schnell im Fortschritt zu verschwinden scheint, ohne es bewahren zu können. Doch besonders sollen die Bilder, Herrn Wolle bewahren. Als Zeitzeugen, als Sammler, als Bewohner, als Mitbewohner, als Freund, als Sohn, als Bruder, als Einwohner. Einfach als Mensch. 

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